Cem Özdemir: „Liebesgrüße aus Istanbul“


von Cem Özdemir

Irgendwann Ende der 1970er Jahre habe ich als Jugendlicher mit meiner Mutter in Istanbul in einem der früher so großartigen Open-Air-Kinos von Istanbul den türkischen Film İŞTE BIZIM HIKAYEMIZ (TR 1978, R: Orhan Aksoy) mit Bülent Ersoy in der Hauptrolle gesehen. Bülent Ersoy sah auch damals schon etwas anders aus, als man sich im Westen so den typischen anatolischen Mann vorstellte. Sehr gepflegt, fast schon etwas zu gepflegt; heute würde man wohl metrosexuell dazu sagen.

Apropos Sex. Davon gab es natürlich gar nichts. Dafür aber jede Menge Herz und Schmerz. Und tragisch war es. Und wie. Er, Bülent, erfolgreicher und wohlhabender Sänger, verliebt sich in ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen. Für einen kurzen Augenblick öffnet sich der Himmel und so etwas wie Glück scheint den beiden zuteil zu werden. Doch dann erfährt er, dass sie Krebs hat. So muss wahre Liebe sein, dachte ich damals: traurig, unerfüllbar und immer tragisch endend. Später bekam ich mit, dass irgendwie nahezu alle türkischen Liebesfilme so ähnlich gestrickt waren: Das Glück ist der Liebe meist nur sehr kurz wohl gesonnen. Dann kommt auch schon des Lebens Traurigkeit und Tragik mit ganzer Wucht und reißt alles mit sich, wie eine wilde Wasserflut.

Doch meine Verwirrung sollte noch nicht beendet sein. Wenige Jahre später wurde aus Herrn Bülent Ersoy, dem schmachtenden Sänger und mehr oder weniger erfolgreichen Schauspieler, Frau Bülent Ersoy. Er unterzog sich einer Geschlechtsumwandlung. Ich hatte tatsächlich auch mal das Vergnügen, Frau Bülent Ersoy bei einer Feier kennenzulernen. Keine Ahnung, was sie dachte, als sie mir, dem anatolischen Schwaben, die Hand gab. Ich erinnerte mich an das arme, krebskranke Mädchen und die unerfüllte Liebe. Ich hoffe, alle Liebenden können irgendwann glücklich, gesund und lange verliebt sein – gleich, wen sie lieben.

 

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